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Zwischen Autonomie und Fürsorge - das ganz alltägliche Dilemma in der Spitex - Ein Erfahrungsbericht

Autorenbild: carolesteigercarolesteiger
Die vier ethischen Prinzipien anhand eines Spitex Beispieles
Die vier ethischen Prinzipien anhand eines Spitex Beispieles

Es ist ein Winterabend, draussen dunkel und kalt. Auf meiner Abendtour in der Spitex unterstütze ich soeben einen Kunden bei der Medikamenteneinnahme. Selber würde er sich nicht daran erinnern. Seit einem Schlaganfall vor einigen Jahren ist er in der Kognition stark eingeschränkt. Bisher erhielt er täglich viel Unterstützung durch seine Ehefrau, doch seit etwas über einem Jahr zeichnet sich auch bei ihr eine Demenz ab. Subtil versuche ich dem Paar mehr Unterstützung anzubieten, ich sehe, dass vieles nicht mehr funktioniert. Der Kunde trägt noch die selben Kleider wie vor meinem Einsatz vor einer Woche. Der Tisch ist noch nicht gedeckt, wie er es früher um diese Zeit war. Ich frage die Ehefrau, was sie dann Essen wollen und frage, ob ich einen Blick in den Kühlschrank werfen darf. "Das Übliche" antwortet sie mir, während ich in den leeren Kühlschrank schaue.

Was nun? Ich habe weder den Auftrag noch die Zeit mich um das Znacht des Ehepaares zu kümmern und auch wenn ich könnte, würden sie jegliche zusätzliche Unterstützung ablehnen. Mit einem unguten Gefühl verlasse ich die Wohnung und spreche dem Sohn auf den Anrufbeantworter. Bis meine Kollegin in ca. 14 Stunden wieder einen Einsatz leistet, sind die beiden wohl auf sich gestellt.


Eine alltägliche Situation in der Spitex, wie es so viele gibt. Ein alltägliches ethisches Dilemma, welches belastend sein kann. Doch was ist ein ethisches Dilemma und mit welchen ethischen Prinzipien kann es dargestellt werden?


Bei einem ethischen Problem in der Pflege handelt es sich um eine Situation, in welcher in irgendeiner Form konkrete Rechte, moralische Prinzipien, pflegerische Notwendigkeiten oder Gewohnheiten in Konflikt stehen.


Ein ethisches Dilemma stellt ein ethisches Problem dar, mit der Besonderheit, dass jede Handlungsoption eine moralische Schuld mit sich bringt.

In solchen Fällen wird bei einer Handlung und bei der Unterlassung einer Handlung eine ethische Pflicht übertreten, sodass eine Entscheidung getroffen werden muss (Graeb, 2019).


Die Philosophen und Ethiker Tom L. Beauchamp und James F. Childress haben für den medizinischen und den pflegerischen Bereich die vier ethische Prinzipien verfasst.

Diese vier Prinzipien haben sich weltweit etabliert und sind zum Standardmodell der Prinzipienethik geworden:


  1. Respekt vor der Autonomie

  2. Gutes tun / Fürsorge

  3. Nicht schaden

  4. Gerechtigkeit



Die vier ethischen Prinzipien - und ihre Grenzen


Im Beispiel oben standen die Prinzipien Respekt vor der Autonomie und Gutes Tun miteinander im Konflikt. Das Ehepaar würde die Unterstützung für das Znacht nicht wollen, jedoch habe ich gesehen, dass dies vermutlich bedeutet, das es kein Abendessen gibt.


Respekt vor der Autonomie Menschen mit chronischen Krankheiten möchten bei einer Veränderung der Lebensumstände weiterhin das Ziel verfolgen, die eigene Autonomie zu erhalten (Ballmer & Gantschnig, 2024). Doch wo sind die Grenzen? Wie sieht es aus, bei Menschen mit Demenz, die noch Zuhause leben möchten. Wie weit können sie das noch selber bestimmen? Und was ist mit Kund:innen, die Unterstützung wünschen bei gesundheitsschädlichem Verhalten (z.B. Zigaretten und Alkohol bereit stellen)?


Gutes tun / Fürsorge

In der Pflege sind wir darauf ausgerichtet, stets zum Wohle der Kund:innen zu handeln, ihr bestes zu wollen. Doch was ist das Beste? Und was ist, wenn die Kund:innen dies nicht zulassen, im Falle einer Non-Adhärenz? Und wenn die Situation von Aussen betrachtet immer unerträglicher wird, die Kund:innen aber nicht handeln wollen. Wann ist der Moment für eine Gefährdungsmeldung gekommen?


Nicht schaden

Bedeutet auch mögliche Risiken zu erkennen und zu vermeiden oder vermindern. Mögliche Risiken zu erkennen gelingt besonders mit einem ausführlichen Assessment wie dem InterRAI. Doch was, wenn unsere begrenzte Zeit im Alltag keine so ausführliche Anamnese zulässt?


Gerechtigkeit

Bedeutet eine gerechte Verteilung der Ressourcen, eine Verteilung nach Bedarf. Und wer bestimmt, wer den geringsten Bedarf hat, wenn zu wenig Personal vorhanden ist? Bei wem werden zuerst die Einsätze gestrichen? Bei denen, die einfach alles stillschweigend hinnehmen?

Im Blogbeitrag über Missed nursing care vom 13.01.25 wird dieses Phänomen mit mehreren Lösungsansätzen beschrieben. Im stationären Setting kommt noch eine Frage zur Gerechtigkeit dazu: Darf in der Verteilung der knappen Ressourcen die Versicherungsdeckung eine Rolle spielen?


Ethik in der Organisation leben

Sehr viele Fragen bleiben unbeantwortet, da sie nicht pauschal beantwortet werden können. Auch Prof. Dr. Settimio Monteverde sagt im Podcastgespräch von Spitex-Welten vom 29.10.24, "Spitex-Mitarbeitende müssen verstehen, in welchem ethischen Spannungsfeld sie sich jeden Tag bewegen". Seine Empfehlung ist eine Schulung mit Inhalten zum Wahrnehmen und Benennen von ethischen Konflikten und Grenzen. Denn das ethisches Klima in einer Organisation ist ein wichtiger Faktor, der die Mitarbeitenden vor der Kündigung abhält, oder eben nicht.


Ein weiterer Umgang mit ethisch herausfordernden Situationen kann es sein, das Pflegeteam mit Fallbesprechungen dazu zu führen, über ethische Dilemmata zu reden und eine gemeinsame Haltung zu finden.


So erging es auf jeden Fall mir, nach meinem Spätdienst. Im Team haben wird die Situation besprochen und konnten so verschiedene Beobachtungen, Haltungen und Lösungsvorschläge im Team sammeln und gemeinsam über das weitere Prozedere bestimmen. Denn auch wenn man in der Spitex alleine auf Tour ist, schwierige Entscheidungen müssen nicht alleine getroffen werden.



Better Nursing kann euch bei der Durchführung von Fallbesprechungen unterstützen.


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Carole Steiger

Pflegeexpertin MScN

Better Nursing GmbH



Literatur


Ballmer, T., & Gantschnig, B. (2024). Maintaining autonomy: How older persons with chronic conditions and their significant others interpret, navigate, and overcome everyday difficulties. Scandinavian Journal of Occupational Therapy, 31(1), 2249959.https://doi.org/10.1080/11038128.2023.2249959


Graeb, F. (2019). Ethische Konflikte und Moral Distress. In F. Graeb, Ethische Konflikte und Moral Distress auf Intensivstationen (pp. 11–27). Springer Fachmedien Wiesbaden. https://doi.org/10.1007/978-3-658-23597-0_2


Schweizer Berufsverband der Pflegefachfrauen und Pflegefachmänner SBK ASI: Ethik und Pflegepraxis, 2013




 
 
 

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