Standardisierte versus Individuelle Pflegediagnosen
In verschiedenen Organisationen in denen ich in der Ausbildung gearbeitet habe, hiess es, "Wir arbeiten nach standardisierten Pflegediagnosen", oder "Wir arbeiten nur nach individuellen Pflegediagnosen" oder auch letzteres "Wir arbeiten nicht mit Pflegediagnosen, nur nach ärztlichen Schematas".
Ersteres bedeutete dann, dass beispielweise alle chirurgischen Patient:innen nach einer Operation die Pflegediagnosen "beeinträchtigte physische Mobilität", "Akute Schmerzen", "Selbstversorgungsdefizit Körperpflege" etc. hatten. Oder dass in einer Palliativen Pflegesituation jedem dieselben 5 Pflegediagnosen gegeben wurden.
Das Zweite mit den individuellen Pflegediagnosen bedeutete, dass einfach irgendwelche Pflegeprobleme selbst formuliert wurden, ohne dass dabei standardisierte Pflegediagnosetitel wie die von NANDA-I verwendet wurden. Also beispielsweise "Trockene Beine", "Husten" oder "Ulcus Cruris".
Letzteres bedeutete, dass der Pflegeprozess in diesen Organisationen nicht als Kern der Pflege gesehen wurde sondern sich die Pflege den ärztlichen Verordnungen unterordnete.
Fairerweise muss man sagen, dass viele Organisationen dazumal noch mit Papierpflegedokumentation unterwegs waren.
Weshalb benötigt es Pflegediagnosen?
Pflegefachpersonen stehen vor der Herausforderung Pflegesituationen schnell und umfassend zu erfassen und dies so zu dokumentieren, dass alle dasselbe verstehen und entsprechend handeln. Die standardisierte Sprache hat hierbei eine zentrale Bedeutung. Eine bedeutende Klassifikation, um diese einheitliche, standardisierte Sprache zu verwenden sind NANDA-I Pflegediagnosen.
Was sind NANDA-I Pflegediagnosen?
Die NANDA-I (North American Nursing Diagnosis Association International) entwickelt und fördert seit über 50 Jahren Pflegediagnosen.
Die Klassifikation wird weltweit verwendet und ist auch in der Schweiz stark verankert (Keenan, Tschannen & Weslex, 2008; Nantschev & Ammenwerth, 2020; Tastan et al., 2014).
NANDA-I hat sich dabei folgendes Ziel gesetzt:
«Die Implementierung der Pflegediagnose verbessert jeden Aspekt der Pflegepraxis, von der Gewinnung professioneller Anerkennung über die Sicherstellung einer konsistenten Dokumentation, die das professionelle klinische Urteil der Pflegekräfte widerspiegelt, bis hin zur genauen Dokumentation, um eine Erstattung zu ermöglichen. NANDA International hat sich zum Ziel gesetzt, eine Terminologie zu entwickeln, zu verfeinern und zu fördern, die die klinischen Urteile von Pflegekräften genau widerspiegelt» (NANDA International Inc., 2023).
Diese Pflegediagnosen umfassen nicht nur physische, sondern auch psychische, soziale und umweltbedingte Aspekte. Durch die Anwendung dieser Diagnosen kann die Pflege systematisiert und individualisiert werden, was zu einer besseren Patientenversorgung führt.
Definition Pflegediagnose
Klinische Beurteilung einer menschlichen Reaktion oder einer Neigung zu einer solchen Reaktion auf einen Gesundheitszustand/Lebensprozesse, die eine Person, pflegende Person, Familie, Gruppe oder Gemeinde zeigt. Eine Pflegediagnose bildet die Grundlage zur Auswahl pflegerischer Interventionen, mit denen Outcomes erzielt werden, für die die Pflegefachperson verantwortlich ist“ (Herdman et al., 2022).
Eine Pflegediagnose ist demnach eine Reaktion auf einen Gesundheitszustand. Beispielsweise die Reaktion Trauer nach einem Tod eines geliebten Menschen oder Schmerzen nach einer Knieoperation.
Wenn also Pflegefachpersonen weltweit dieselben Phänomene/Reaktionen gleich beschreiben und erfassen, kann dies ungemein helfen unsere Profession besser zu verstehen. Zudem ist sie die Ausgangslage um herauszufinden welche Pflegeinterventionen bei welcher Pflegediagnose wirksam sind.
Vorteile einer standardisierten Sprache
wir reden alle vom selben (Müller-Staub et al, 2008)
verbessert unsere Dokumentation und Rechenschaftspflicht (Paans et al., 2010)
fördert die Kontinuität (Thoroddsen et al, 2007)
sie ist evidenzbasiert (Lunney, 2006)
erhöht die Patientenzufriedenheit (Müller-Staub 2001; Welton & Halloran, 2005).
fördert die Nachvollziehbarkeit der Pflegedokumentation
stärkt die professionelle Identität der Pflege (Moorhead et al., 2018)
erleichtert die Pflegeforschung (Gordon, 1998)
Anwendung von NANDA-I Pflegediagnosen
Durch das Sammeln von Informationen im ersten Schritt des Pflegeprozess (Assessment) werden subjektive und objektive Daten gesammelt und gebündelt. Dies kann und sollte mittels einem Assessment Instrument gemacht werden. In der Spitex und Langzeitpflege ist das am häufigsten RAI/ BESA.
Gerade RAI gibt daraus die Abklärungshilfe (CAPs) hervor, aus denen auffällige und risikoreiche Bereiche aufzeigt. Diese werden von der Pflegefachperson in Verbindung gebracht, priorisiert, beurteilt und daraus die passende(n) Pflegediagnosen gewählt.
Diese Pflegediagnosen werden dann entsprechend ihrer Diagnoseart formuliert:
Problemfokussierte Pflegediagnose
Risikodiagnose
Gesundheitsförderungsdiagnose
Syndromdiagnose
Häufig sehe ich in Stichproben von Pflegeplanungen, dass bei allen Diagnoseformen alle möglichen Felder ausgefüllt werden. Dies ist nicht notwendig und auch nicht zielführend.
Beeinflussende Faktoren/ Ursachen
Bestimmende Merkmale/ Symptome
Risikofaktoren
Ressourcen
Die seit 2019 neu hinzugekommene Begrifflichkeiten, welche die Ursachen unterteilten werden leider teilweise komplett ignoriert.
assoziierte Bedingungen
Risikopopulation
Zudem ist es mittlerweile so, dass in den meisten Softwarelösungen NANDA-I implementiert ist und aus den einzelnen Feldern (Bsp. Beeinflussende Faktoren) die standardisierten Begrifflichkeiten über drop down angewählt werden können.
Das spart Dokumentationszeit, jedoch sollte nicht verpasst werden die Pflegediagnose auf die konkrete Pflegesituation zu individualisieren .
Beispiel einer NANDA-I Pflegediagnose
Verminderte Aktivitätstoleranz (00298)
Beeinflussende Faktoren
Depressive Symptome (Antriebslosigkeit)
Physischer Konditionsabbau (sitzt mehrheitlich den ganzen Tag im Sessel)
Bestimmende Merkmale
Beschwerden bei körperlicher Belastung (Schmerzen, Gehunsicherheit)
Ängstlich, wenn Aktivität erforderlich ist (will nicht ausser Haus)
Assoziierte Bedingungen
Neurodegenerative Erkrankungen (Morbus Parkinson ED 03/2019)
Risikopopulation
Ältere Erwachsene (62 J.)
In Blau sind die individuellen Ergänzungen bezogen auf die Pflegesituation. Damit sind die Individualisierungen gemeint.
Fazit
Standardisierte Pflegediagnosen bieten eine effiziente Möglichkeit, den Pflegeprozesse zu strukturieren und eine gemeinsame Sprache unter Pflegefachpersonen zu schaffen. Sie fördern die Nachvollziehbarkeit, Kontinuität und Qualität der Pflege.
Doch es besteht die Gefahr, dass diese Standardisierung zu einem „Einheitsbrei“ wird, wenn die individuellen Bedürfnisse der Kund:innen vernachlässigt werden. Die Herausforderung besteht darin, die Vorteile der Standardisierung zu nutzen, ohne die Individualität der Pflege aus den Augen zu verlieren.
Eine Balance zwischen standardisierten Pflegediagnosen wie die von NANDA-I und der gezielten Anpassung resp. Ergänzung an die individuelle Pflegesituation ist daher der Schlüssel zu einer qualitativ hochwertigen, patientenzentrierten Pflege.
Wie Pflegediagnosen im Alltag der Pflege anwenden?
In den Schulungen zum Pflegeprozess zeigen wir den Teilnehmenden, wie sie den Pflegeprozess konkret im Spitex-Setting anwenden.
Jeder einzelne Schritt wird dabei geübt.
Bei Inhouse Schulungen nehmen wir zudem konkret Bezug auf das angewendete Softwareprodukt. Zudem lohnt es sich nicht nur die Fallführenden Pflegefachpersonen sondern das ganze Team einzubeziehen, angepasst auf die Funktion. Beispielsweise mit folgenden Schulungen: "Pflegeberichte formulieren" und "Anpassungen in der Pflegeplanung"
Im Herbst 2025 findet zudem wieder eine offen ausgeschriebene Schulung in Olten statt.
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Quellen
Gordon, M. (1998). Nursing diagnosis: Process and application (3rd ed.). Mosby. ISBN: 978-0815181818.
Keenan, G., & Yakel, E. (2005). Promoting safe nursing care by bringing visibility to the disciplinary aspects of interdisciplinary care. AMIA ... Annual Symposium proceedings / AMIA Symposium. AMIA Symposium, p. 385-9.
Lunney, M. (2006). Critical thinking and nursing diagnoses: Case studies and analyses. NANDA International. ISBN: 978-0781774084.
Moorhead, S., Johnson, M., Maas, M. L., & Swanson, E. (2018). Nursing Outcomes Classification (NOC): Measurement of health outcomes (6th ed.). Elsevier Health Sciences. ISBN: 978-0323444865.
Müller Staub, M. (2001). Qualität der Pflegediagnostik und Patientinnen-Zufriedenheit: Eine Literaturübersicht. Pflege: Die wissenschaftliche Zeitschrift für Pflegeberufe, 14(4), 230-238.
Müller-Staub, M., Needham, I., Odenbreit, M., Lavin, M. A., & van Achterberg, T. (2008). Improved quality of nursing documentation: Results of a nursing diagnoses, interventions, and outcomes implementation study. International Journal of Nursing Terminologies and Classifications, 19(1), 5-17. DOI: 10.1111/j.1744-618X.2007.00081.x.
Nantschev, R., & Ammenwerth, E. (2020). Availability of Standardized Electronic Patient Data in Nursing: A Nationwide Survey of Austrian Acute Care Hospitals. Studies in Health Technology and Informatics, 272, 233–236. https://doi.org/10.3233/SHTI200537
Tastan, S., Linch, G. C. F., Keenan, G. M., Stifter, J., McKinney, D., Fahey, L., Lopez, K. D., Yao, Y., & Wilkie, D. J. (2014). Evidence for the existing American Nurses Association-recognized standardized nursing terminologies: A systematic review. International Journal of Nursing Studies, 51(8), 1160–1170. https://doi.org/10.1016/j.ijnurstu.2013.12.004
Thoroddsen, A., & Ehnfors, M. (2007). Putting policy into practice: Pre- and posttests of implementing standardized languages for nursing documentation. Journal of Clinical Nursing, 16(10), 1826-1838. DOI: 10.1111/j.1365-2702.2007.01751.x.
Welton, J. M., & Halloran, E. J. (2005). Nursing diagnoses, diagnosis-related group, and hospital outcomes. Journal of Nursing Administration, 35(12), 541-549.
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