Klient*innen verstehen: Warum Biografiearbeit in der Pflege mehr ist als ein netter Zusatz
- carolesteiger

- vor 3 Tagen
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Wer in der Pflege arbeitet, weiss, wie vielfältig jeder Arbeitstag ist. Nicht wegen der Aufgaben, sondern wegen der Menschen. In der Spitex wie im Pflegeheim begegnen wir Lebensläufen, die unterschiedlicher kaum sein könnten. Verschiedene Generationen, diverse Herkunftsländer, bunte Familienkonstellationen, vielfältige Schicksale. Denn keine Lebensgeschichte ist wie die Andere. Jede Pflegebeziehung ist ein Stück Einblick in ein Leben, das weit vor dieser Begegnung begonnen hat.
Gerade in der ambulanten Pflege betreten wir Räume, die sonst niemand sieht. Fotos an der Wand, ein Andenken auf dem Nachttisch. Manchmal erfahren wir mehr über jemanden in den ersten zehn Minuten in der Wohnung als in einem ganzen Stapel Dokumente. Und genau diese Einblicke sind wichtig. Denn wer jemanden über Monate oder Jahre begleitet, merkt schnell, wie wichtig Wissen über die Hintergründe eines Menschen sind. Nicht nur Diagnosen, nicht nur Pflegeinterventionen. Sondern das, was eine Person geprägt hat und welche Glaubenssätze eine Person hat.

Wenn man Pflegepersonen fragt, weshalb sie den Beruf gewählt haben, kommt meist als Antwort, dass sie sich für Menschen interessieren. Weil sie Menschen verstehen wollen. Weil sie Begegnungen schätzen. Weil sie Beziehungen aufbauen möchten. Dieser Teil des Berufs ist nicht nur schön, er ist sinnstiftend. Er erinnert uns daran, warum wir überhaupt angefangen haben, weshalb wir am Morgen früh aufstehen, abends lange arbeiten oder gar die ganze Nacht wach bleiben.
Doch gleichzeitig erleben wir im Alltag etwas anderes: Zeitdruck, Personalmangel, ständige Priorisierung und dadurch gekürzte oder unterlassene Interventionen. Gespräche, empathische Präsenz und biografisches Arbeiten werden oft als zweitrangig betrachtet. Und wenn dafür keine Zeit bleibt, fehlt ein entscheidender Teil der Pflege. Nicht nur für die Klientinnen und Klienten, sondern auch für uns selbst. Nähe entsteht im Zuhören, im Verstehen, im kurzen Moment, in denen jemand erzählt, warum dieses Foto im Wohnzimmer so wichtig ist. Wenn dieser Raum fehlt, leiden beide Seiten. Klientinnen und Klienten haben das Gefühl, als Menschen nicht wichtig und ernst genommen zu werden. Pflegepersonen verlieren den Teil ihres Berufs, der ihnen Energie gibt und Freude bereitet. Das Ergebnis ist Frustration, Erschöpfung und das Gefühl, nur noch zu funktionieren.
Deshalb ist Biografiearbeit kein Zusatz, sondern der Kern einer professioneller Pflege. Und eine Voraussetzung, damit Pflegepersonen langfristig motiviert bleiben. Wer Menschen begleitet, begleitet immer ihre Geschichten. Wer ihre Geschichten kennt, pflegt verständnisvoller, individueller und mit mehr Ruhe. Auf einmal kann man verstehen, weshalb eine Person Pflegeinterventionen ablehnt, Mühe hat, Hilfe anzunehmen oder unsicher und ängstlich ist. Und mit diesem Wissen, kann gezielter darauf eingegangen werden, Widerstände von Klientinnen und Klienten abgebaut oder Verständnis auf Seite der Pflege aufgebaut werden.
Pflege ist Arbeit am Menschen. Und Menschen sind Geschichten. Wenn wir die Zeit finden, sie zu hören, gewinnen am Ende alle.

Carole Steiger
Pflegeexpertin MScN
Better Nursing GmbH
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Literatur
Ehrenhöfer, G. (2014). Biografiearbeit im Rahmen der stationären Langzeitpflege. Karl Franzes Universität Graz.
Helfmann, I., & Schnitzler, M. (2021). Biografiearbeit bei älteren Menschen im Krankenhaus. Geriatrie up2date, 03(4), 311–326. https://doi.org/10.1055/a-1553-6470
Specht-Tomann, M. (2025). Biografiearbeit: In der Gesundheits-, Kranken- und Altenpflege. Springer-Verlag.



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