Pflegefachpersonen haben den Beruf nicht gewählt, damit sie stundenlang dokumentieren dürfen. Da sind wir uns sicherlich einig.
Die Pflegedokumentation ist wichtiger denn je. In einigen Bereichen wie in der Spitex- und Langzeitpflege in finanzieller Hinsicht mehr, als im DRG-finanzierten System.
Mangelhafte Dokumentation = Mangelhafte Pflege?
Die LeistungsmanagerInnen von Krankenversicherungen haben nur die Pflegedokumentation, zur Überprüfung der Leistungen.
Es sind keine Ressourcen vorhanden, um den Pflegefachpersonen direkt über die zu Schultern schauen. Ob die Pflege wirksam, zweckmässig und wirtschaftlich (WZW Kriterien) ist, wird einzig anhand der Pflegedokumentation entschieden.
Es wird überprüft, ob der verordnete Pflegebedarf ausgewiesen und nachvollziehbar dokumentiert ist.
Die Pflegequalität vor Ort, lässt sich dadurch jedoch nicht beurteilen.
Die Pflege am Bett kann noch so gut sein, wenn sie in der Dokumentation nicht abgebildet ist, geht Qualität, Freude und Geld verloren.
Von Qualitätsfokus bis zum Betrug
LeistungsmanagerInnen haben Einsicht in die Pflegedokumentation von verschiedenen Organisationen und diese Perspektive ist nicht zu unterschätzen.
Die gute Nachricht:
In einem Interview mit zwei Leistungsmanagerinnen* einer grossen schweizer Krankenversicherung, gaben sie an, dass es nicht unbemerkt blieb, dass viele Organisationen die Qualität in den Fokus rücken.
Beispielsweise in die Erarbeitung von Konzepten oder in gezielte Aus- und Weiterbildungen der Mitarbeitenden. Es sei bei einigen spürbar, dass diese Konzepte «gelebt» werden.
Nur so kann der Kunde von den Qualitätsbemühungen profitieren.
Die Pflegedokumentation in Pflegeheimen sei jedoch deutlich mangelhafter, als in Spitexorganisationen.
Grundsätzlich fehle es meist an der Individualität der Pflegediagnosen, der Pflegeplanung sowie an den Zielen.
Der Fokus von Leistungsmanagerinnen liege nicht darauf, Geld einzusparen sondern die bestmögliche Qualität für die KundInnen zu gewährleisten. In einem fairen Rahmen der Finanzierung.
Es ist leider nicht so bekannt, dass es nach wie vorkomme, dass Betrug betrieben werde. In Pflegeplanungen stehen dann Leistungen, wo gar kein Bedarf in der Realität besteht. Wunden, welche nicht existieren, Essensbegleitungen bei selbständigen KlientInnen oder Haushaltshilfe, die unter einer kassenpflichtigen Leistung abgerechnet werden.
Manchmal sei es schwer zu beurteilen, ob es am fehlenden Know How liege, oder bewusster Betrug versucht werde.
Für wen dokumentiert denn die Pflege?
Pflegefachpersonen argumentieren immer mal wieder, dass sie dieses oder jenes nur für die Versicherungen dokumentieren würden.
Wir dokumentieren nicht primär für die Krankenversicherung.
Sondern für unsere PatientInnen, BewohnerInnen, KlientInnen oder KundInnen.
Des Weiteren für unsere Mitarbeitenden im Team, für das interprofessionelle Team und für die Nachvollziehbarkeit der getätigten Leistungen.
Grundsätzlich zeigen sich folgende Herausforderungen, die Pflegende mit der Dokumentation haben.
Dies ist keine abschliessende Aufzählung mit Anspruch auf Vollständigkeit.
Wann wird dokumentiert, wann rationiert?
Von 1x/ Schicht, bei jedem Einsatz, bis zu einmal pro Woche oder nur bei Abweichungen. Beim Dokumentieren sind die Regeln so unterschiedlich wie die pflegerischen Bereiche und entsprechend herausfordernd ist die Pflegedokumentation.
Die Dokumentation gilt gegenüber der direkten Versorgung der PatientInnen als nachrangig (Strässner, 2010). Das bedeutet, die Pflege der Patienten geht immer vor.
In der Praxis wird die Dokumentation meist gegen Ende der Schicht erledigt, weil die Bedürfnisse der PatientInnen Vorrang haben. In der Spitex am Ende jedes Einsatzes. Manchmal am Ende der Tour.
Nur kann am Ende einer strengen Schicht kaum noch ein klarer Gedanke gefasst werden.
Wenn die Dokumentation dann in der Überzeit fällig wird, geht vermutlich die Hälfte verloren.
Knapp 40% der Pflegefachpersonen in Pflegeheimen gaben an, manchmal oder oft die Pflegedokumentation nicht genügend dokumentieren zu können. Es ist häufig die erste Massnahme die bei Ermangelung an Zeit rationiert wird (Zúñiga et al. 2021).
Das hat Folgen. Denn gravierende Fehler sind häufig auf eine mangelhafte Dokumentation zurückzuführen (Schubert et al. 2005). Daher lohnt es sich, die Zeit einzuplanen.
Fallstricke gibt es im gesamten Dokumentationsprozess
Meistens beginnt eine mangelhafte Pflegedokumentation beim Assessment. Die Bedarfsabklärung wird nicht geplant oder vollständig dokumentiert und schnell, schnell erledigt.
Es fehlen die passenden Pflegediagnosen oder es wird einfach eine 0815 Pflegediagnose formuliert.
Einfach damit eine vorhanden ist.
Das Ziel ist so formuliert, dass es niemals evaluiert werden kann. Nicht aus Absicht. Eher aufgrund einer der oben erwähnten Herausforderungen in der Dokumentation.
Es gibt intern keine RAI oder BESA Verantwortliche. Oder sie hat keine Ressourcen, die Bedarfsabklärung und die Reassessments regelmässig zu überprüfen.
Mitarbeitende fokussieren die Pflege auf die Massnahmen und wissen nicht, weshalb sie die beschriebenen Interventionen und zu welchem Ziel, sie sie durchführen.
So steht dann im Pflegebericht kaum mehr als Wohlbefinden oder überspitzt formuliert der letzte Toilettengang.
Mangelhafte Pflegedokumentation verursacht Unklarheiten. Diese wiederum verursachen Mehraufwand. Es kommt zu Rückfragen von Mitarbeitenden, Unsicherheiten bei den Klienten, Angehörigen und viel vermeidbaren zusätzlichen administrativen Aufwand im Kontakt mit den Krankenversicherungen.
Genauso wie dies zu unerwünschten Ereignissen führen kann.
Fallstricke gibt es vom Anfang bis zum Ende eines Patientenpfades.
Wenn die Krankenversicherungen Leistungen kürzen
Die Krankenversicherungen überprüfen die Wirksamkeit und die Zweckmässigkeit. Ist diese gegeben, kann davon ausgegangen werden, dass die Leistung auch wirtschaftlich ist (Schweizerische Gesellschaft der Vertrauens- und Versicherungsärzte, n.D.).
Das bedeutet, dass sie Wirksamkeit einer pflegerischen Intervention nachvollziehbar dokumentiert werden muss. Zudem müssen die richtigen Massnahmen getroffen werden, damit sie das richtige pflegerische Problem angehen.
Wenn LeistungsmanagerInnen bei Einsicht der Unterlagen feststellen, dass die Bedarfsabklärung und die Pflegeplanung extra vor Versand gestrählt wurde, oder überhaupt noch schnell erstellt wurde, schürt das Misstrauen.
Zudem muss keine Pflegedokumentation für die Krankenversicherung verschönert werden.
Beispiel
Fr. M benötigt von der Spitex Unterstützung im pflegen ihrer Beine. Die Spitex führt täglich ein Fussbad durch und wäscht und cremt ihre Beine ein. Sie benötigt dafür 40 Minuten. Dies wird als "Medizinal-Teilbad" und als "Haut einreiben therapeutisch verordnet" quantifiziert. Also beides Behandlungspflegerische Leistungen.
Die Krankenversicherung findet bei Einsicht der Pflegedokumentation keine Pflegediagnose, keine Verordnung und keine Evaluation der Hautverhältnisse sowie des Ziels.
Sie entscheiden, dass die Wirksamkeit nicht gegeben sei und die daher täglich maximal 20 Minuten Grundpflegerische Leistungen vergüten.
Das bedeutet, dass die Spitex monatlich aufgrund dieses Patzers Geld verliert und Fr. M. weniger Pflege erhält, obschon dies ihr zustehen würde.
Diese so entstehende Unterversorgung kann zu Komplikationen und sogar zu einer (vermeidlichen) Hospitalisation führen.
Rechnerisch wären das statt (40min x 30 Tage) / 60min = 20 Stunden pro Monat.
20 Stunden x CHF 63 (Tarif Behandlungspflege) = CHF 1260/ Monat
nur noch (20min x 30 Tage) / 60min = 10 Stunden pro Monat
10 Stunden x CHF 52.60 (Tarif Grundpflege) = CHF 526/ Monat
Also ein Verlust von CHF 734 Franken pro Monat ohne Beitrag der Gemeinden.
Beim oben erwähnten Beispiel hat die Abrechnung der Leistungen weniger eine Rolle gespielt. Es kommt jedoch nicht selten vor, dass Pflegende im Einsatz, gerade wenn mehr als ein Leitungstarif hinterlegt ist, nicht wissen, welche Leistung welchem Tarif zuzuordnen ist.
Entsprechend verrechnen sie dann eine Behandlungspflegerische Leistung versehentlich als Grundpflegerische Leistung oder umgekehrt.
Einige Softwarefirmen helfen, dass eine Verwechslung der Leistungen verhindert werden kann.
Ein Blick in die Zukunft
Wünschenswert wären klare Regelungen des Pflegeprozesses und einer einheitlichen Sprache. Die standardisierten Sprache in der Pflegediagnostik (NNN) wäre dabei erstrebenswert, sodass die Softwareanbieter und die Organisationen dies umsetzen müssen.
Dies könnte die Qualität der Pflegediagnostik erheblich verbessern und nach einem grösseren erstmaligen Aufwand um einiges vereinfachen. Zudem würde dies die Entwicklung eines Decision Support System ermöglichen, welches die Pflegefachpersonen im Pflegeprozesses aktiv unterstützen würde (VFP, 2018).
Eine Zertifizierung von Organisationen in der Pflegedokumentation und dann eine entfallende Überprüfung durch die Krankenversicherung war eine Initiative, die wieder im Sande verlief.
Vermutlich ist gerade seitens Krankenversicherung da grosser Widerstand.
Bereits einige Krankenversicherungen geben das Leistungscontrolling an Externe Organisationen weiter, die sich dafür spezialisiert haben.
Eine stärkere Vernetzung innerhalb der Leistungserbringer mit den Krankenversicherungen, um auf neutralem Boden schwierige Abrechnungsfälle zu besprechen, wäre wünschenswert.
Eine weitere zukunftsträchtige Idee wäre die KI-gestützter Spracheingabe in der Pflegedokumentation. Mit entsprechender Vernetzung zu Erinnerungsfunktionen, Timer und Verknüpfung zum Pflegeprozess. Auch hierzu gibt es bereits ein vielversprechendes StartUp.
Ob und wie die Pflege entbürokratisiert wird bleibt jedoch noch unklar.
Die Pflegeinitiative bringt auf jeden Fall noch Hoffnung.
Handlungsempfehlungen für eine bessere Pflegedokumentation
Die Pflegedokumentation digitalisieren. Das spart Zeit, reduziert Dokumentationsfehler, Stürze und Infektionen (McCarthy et al. 2019).
Es benötigt eine interne RAI oder BESA Verantwortliche Person, welche die (neuen) Fallführenden unterstützt und Kontrollmechanismen einführt, damit frühzeitig ein erhöhter Pflegebedarf erkannt wird.
Die QM Verantwortliche oder PflegeexpertIn führt jährlich/alle zwei Jahre eine interne Pflegedokumentationsanalyse durch und gibt den Mitarbeitenden Feedback.
Alle weiteren Mitarbeitenden im Einsatz, sollten jährlich zum Pflegebericht formulieren geschult werden. In der Spitex auch zum Leistungskatalog/RAI
Die Qualitätsindikatoren intern diskutieren, den Fallführenden rückmelden und auf die Kodiersicherheit achten.
Lieber das diplomierte Pflegepersonal weniger, dafür ausführlicher dokumentieren lassen und das Hilfspersonal in der Dokumentation entlasten.
Es lohnt sich, in genügend diplomiertes Pflegepersonal zu investieren.
Spätestens wenn die Sätze "Pflege nach Plan" und "Auftrag ausgeführt" die zwei Lieblingssätze in der Verlaufsberichtdokumentation der Mitarbeitenden sind, ist eine Auffrischschulung notwendig.
Zum Pflegebericht formulieren in der Spitex gibt es von Rissip eine tolle und sehr praxisbezogenes E-Learning.
Diese ist vor allem für alle Mitarbeitenden an der Basis zu empfehlen. Der Pflegeprozess wird leider ausgeklammert.
Better Nursing ist im Gespräch mit Rissip, um gemeinsam weitere E-Learnings zu erstellen und den Pflegeprozess darin abzudecken.
Wenn dich das interessiert, trage dich gerne in den Newsletter auf der Homepage ein, damit wir dir zeitnah Informationen dazu zusenden können.
Wenn du interne Unterstützung benötigst in einer oder mehreren der genannten Handlungsempfehlungen, buche dir ein Kennenlerngespräch mit Better Nursing und wir schauen uns gemeinsam an, ob und wie wir dich unterstützen können.
Jennifer Kummli
Pflegeexpertin APN/ MScN
*Namen der Bloggerin bekannt
Literatur
McCarthy B, Fitzgerald S, O'Shea M, Condon C, Hartnett-Collins G, Clancy M, Sheehy A, Denieffe S, Bergin M, Savage E. Electronic nursing documentation interventions to promote or improve patient safety and quality care: A systematic review. J Nurs Manag. 2019 Apr;27(3):491-501. doi: 10.1111/jonm.12727. Epub 2018 Dec 17. PMID: 30387215.
Strässner, H.R. (2010). Rechtliche Aspekte der Pflegedokumentation Heruntergeladen von https://www.thieme.de/statics/dokumente/thieme/final/de/dokumente/tw_pflege/le4_110_1-schutz.pdf am 21.10.2022
Schweizerische Gesellschaft der Vertrauens- und Versicherungsärzte, n.D. WZW Einführung und Übersicht. Heruntergeladen von: https://www.vertrauensaerzte.ch/manual/4/wzw/einfuehrung/#:~:text=Untersuchung%20der%20Zweckm%C3%A4ssigkeit%20anhand%20verschiedener,zwischen%20Aufwand%20und%20Nutzen%20besteht.
Schubert, M., Schaffert-Witvliet. B., De Geest, S., Aiken, L., Sloane, D. M., Clark, S., Abraham,I., und Glass, T, (2005). RICH - Nursing Study. Rationioning of Nursing Care in Switzerland = CH.
Spitex Schweiz (n.D.) Spitex Leistungskatalog Oktober 2015. Heruntergeladen von
Zúñiga, F., Favez, L. Baumann, S. et al. (2021). SHURP 2018 – Schlussbericht. Personal und Pflegequalität in Pflegeinstitutionen in der Deutschschweiz und Romandie. Universität Basel. https://shurp.unibas.ch/shurp-2018-publikationen/
VFP (2018). Wissenschaftliche Empfehlung des VFP für standardisierte
Pflegefachsprachen in Klinikinformations-Systemen (KIS) Heruntergeladen von https://www.researchgate.net/publication/329444636_Wissenschaftliche_Empfehlung_des_VFP_fur_standardisierte_Pflegefachsprachen_in_Klinikinformations-Systemen_KIS am 24.10.2022
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