Am internationalen Tag der Pflege, dem 12. Mai 2022, erschütterte die Schlagzeile "Altersheime stellen systematisch Senioren mit Pillen ruhig" die Schweiz. [1]
Die Studie von Max Giger ist kritisch zu hinterfragen,
denn sie wurde noch nicht publiziert und ist demnach auch nicht peer-reviewed, was bedeutet, dass andere Wissenschaftler die Inhalte bisher nicht kritisch überprüft haben.
In der Studie kamen sie zum Schluss, dass das Medikament Quetiapin (Seroquel) bei 40 Prozent der Bewohner ohne Schizophrenieerkrankung verordnet wird.
Das ist auf den ersten Blick eine hohe Zahl, jedoch zeigt die Studie nicht, dass Quetiapin
Off-Label häufig als schlafförderndes Medikament angewendet wird.
Dies hat im Vergleich zu den klassischen Schlafmedikamenten viele Vorteile, da keine Abhängigkeitsgefahr besteht.
Meist wird das Medikament in einer niedrigeren Dosierung (25-75mg/ Tag) verabreicht,
als bei einer schizophrenen Erkrankung (400-800mg/Tag).
Die Studie zeigte weiter, dass 49% der Bewohner eines Pflegeheims neun oder mehr Medikamente täglich einnehmen.
Dies zeigt sich noch extremer bei Spitexpatient*innen. Der Bezug der Medikamente reicht da auf bis zu 16 Präparate gleichzeitig. Von den Spitexpatient*innen gelten 87,3 % als polypharmaziert [2].
Die Patientensicherheit Schweiz hat 2016 bereits das nationale Programm progress! Medikation in Pflegeheimen gestartet welches im 2021 abgeschlossen wurde.
Folgende Qualitätstandards (QS) wurden dabei formuliert und können unerwünschte Arzneimittelereignisse verhindern. [3] Die Qualitätsstandards zielen zwar auf Bewohner von Langzeitpflegeinstitutionen ab, jedoch lassen sich viele davon für die ambulante Pflege ableiten.
QS I Die Medikation wird regelmässig und in definierten Situationen überprüft. |
QS II Die Medikationsüberprüfung wird strukturiert durchgeführt. |
QS III: Die Medikation wird strukturiert monitorisiert. |
QS IV: Alle Fachpersonen engagieren sich für eine optimale interprofessionelle Zusammenarbeit. |
QS V: Die Bewohnerinnen und Bewohner werden aktiv in den Medikamentenprozess einbezogen. |
QS I
- regelmässige Überprüfung der Medikamente (minimum halbjährlich)
- situationsbedingte Überprüfung (bei Eintritt, Wiedereintritt, klinisch relevanten Veränderung des Gesundheitszustandes, bei Hinzuziehen eines Spezialisten, Sicherheitsbedenken einer Fachperson)
QS II
– Beobachtungen zum Gesundheitszustand (z.B. Verwirrtheit, Schläfrigkeit, neue Beschwerden, funktionelle Verschlechterung)
– Beobachtungen, ob potenziell inadäquate Darreichungsformen und -wege verwendet werden
– Beobachtungen, ob Einnahme- oder Anwendungsschwierigkeiten bestehen
QS III
- Sicherstellung, dass die von der Ärztin oder dem Arzt kommunizierten Beobachtungshinweise dokumentiert werden.
• Überwachung des allgemeinen Gesundheitszustandes und möglicher Nebenwirkungen gemäss von der Ärztin oder dem Arzt kommunizierten Beobachtungshinweisen.
• Umsetzung des durch die Ärztin oder den Arzt festgelegten Prozedere beim Auftreten von potenziellen Nebenwirkungen (z.B. Reservemedikament verabreichen, sofortige Kontaktaufnahme mit der Ärztin oder dem Arzt).
• Beobachtungen, ob potenziell inadäquate Darreichungsformen und -wege verwendet werden.
• Beobachtungen, ob Einnahme- oder Anwendungsschwierigkeiten bestehen.
• Schriftliche Dokumentation der obigen Beobachtungen für die regelmässige Überprüfung.
• Kenntnis der Situationen, in welchen eine situationsbedingte Überprüfung notwendig ist, und Information an die Ärztin oder den Arzt, falls diese eintreten
QS IV
• Die Fachpersonen kennen einander.
• Die Kompetenzen der involvierten Fachpersonen sind bekannt und werden respektiert.
• Die Aufgaben und Verantwortlichkeiten aller involvierten Fachpersonen im Medikationsprozess sind definiert und allen bekannt.
• Für jede Bewohnerin und jeden Bewohner wird von allen Fachpersonen ein gemeinsames Behandlungsziel festgelegt und verfolgt.
• Es wird eine offene Kommunikationskultur zwischen allen Fachpersonen gelebt
• Hinweise, Bedenken und Informationen anderer Fachpersonen werden ernst genommen.
• Die Kommunikationswege (wie/wer/wann/wo) zwischen den Fachpersonen sind festgelegt.
• Die Fachpersonen gewährleisten, dass sie innert nützlicher Frist für andere Fachpersonen erreichbar sind.
• Die gemeinsam durchgeführten Prozessschritte sind optimal organisiert, d.h. beispielsweise ein Termin für ein gemeinsames Bewohnergespräch wurde festgelegt, die Visite wurde vorbereitet.
• Es werden interprofessionelle Austauschgefässe geschaffen und genutzt, z.B. regelmässige interprofessionelle Teamsitzungen zu organisatorischen und klinischen Themen, Qualitätszirkel.
• Die Leitung bestimmt eine Person aus dem Behandlungsteam, die zur Förderung der interprofessionellen Zusammenarbeit Massnahmen initiiert und deren Umsetzung sicherstellt.
QS V
• Die Fachpersonen ermutigen die Bewohnerinnen und Bewohner und die Angehörigen, ihre Bedürfnisse, Bedenken und Veränderungen des Gesundheitszustandes zu kommunizieren.
• Die Bedürfnisse und Präferenzen der Bewohnerin oder des Bewohners werden bei der Erarbeitung der Behandlungsoptionen mitberücksichtigt.
• Die Fachpersonen ermöglichen, dass sich die Bewohnerinnen und Bewohner am Behandlungsentscheid beteiligen können.
• Die Bewohnerinnen und Bewohner erhalten ausreichend und verständliche Informationen, damit sie sich am Behandlungsentscheid beteiligen können.
• Die Fachpersonen stellen sicher, dass die Bewohnerin oder der Bewohner die Informationen verstanden hat.
• Bei nicht-urteilsfähigen Bewohnerinnen und Bewohnern wird für sämtliche oben genannten Aktivitäten die medizinisch vertretungsberechtigte Person einbezogen.
Weitere relevante Massnahmen
Die Verwendung einer aktuellen, kompletten, korrekten, gut verständlichen Medikamentenliste
Förderungsprojekte zur Schnittstellenschaffung zwischen den Klientendokumentationssystemen von Hausärzten und Spitex und Heimen
Die Pflege ist eine Schlüsselstelle in der Medikation von Bewohnern und Spitexklient*innen. Daher sollte dies in den Institutionen innerbetrieblich konzeptionell angegangen und mittels einem internen CIRS überprüft werden.
Gerne unterstützt Sie Better Nursing dabei die internen Prozesse zu überprüfen und anzupassen.
Literatur
Gamp, R. (2022). Studie zum Pflegealltag - Altersheime stellen systematisch Senioren mit Pillen ruhig. Heruntergeladen von https://www.tagesanzeiger.ch/senioren-in-schweizer-altersheimen-werden-systematisch-mit-pillen-ruhiggestellt-111678568702?idp=OneLog&new_user=no am 13.05.2022
Schur, N. et al. (2020). Helsana-Arzneimittelreport: Patientinnen und Patienten der Spitex sind grossen Medikationsrisiken ausgesetzt. Heruntergeladen von https://www.presseportal.ch/de/pm/100004725/100860510 am 13.5.2022
Brühwiler, L. et. al. (2021). Qualitätsstandards für die sicherere und bewohnerorientierte Medikation in Pflegeheimen. Heruntergeladen von https://www.patientensicherheit.ch/fileadmin/user_upload/1_Projekte_und_Programme/progress_sichere_med._pflegeheime/Abschlusskommunikation_30.6.2021/_final_QS_Langversion_Medikation_in_Pflegeheimen_DE_210426.pdf am 13.05.2021
Diedrich, D., Zúñiga, F. and Meyer-Massetti, C. (2021) “Medikationsmanagement in der häuslichen Pflege – der Medikationsprozess aus der Perspektive von Klient:innen und ihren Angehörigen”, Zeitschrift für Gerontologie und Geriatrie. Springer, pp. 1–6. 10.1007/s00391-021-01985-6.
Stiftung Patientensicherheit Schweiz (2017). Schlussbericht Pilotprogramm progress! Sichere Medikation an Schnittstellen. Heruntergeladen von https://www.patientensicherheit.ch/fileadmin/user_upload/1_Projekte_und_Programme/progress_sichere_med._schnittstellen/progress_sms_d/Executive_Summary_progress__Sichere_Medikation.pdf am 13.05.2022
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